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Die Rückkehr von Rom

3. In Korinth

133:3.1

Zu der Zeit, als sie Korinth erreichten, begann sich Ganid sehr stark für die jüdische Religion zu interessieren. Als sie eines Tages an einer Synagoge vorüberkamen und die Leute hineingehen sahen, war es deshalb nicht befremdlich, dass Ganid Jesus bat, ihn zu dem Gottesdienst mitzunehmen. An diesem Tag hörten sie einen gelehrten Rabbiner über „die Bestimmung Israels“ reden, und nach dem Gottesdienst lernten sie den obersten Leiter dieser Synagoge, einen gewissen Krispus, kennen. Oft kehrten sie zu den Gottesdiensten in die Synagoge zurück, aber hauptsächlich, um Krispus zu treffen. Ganid gewann ihn, seine Frau und seine fünf Kinder sehr lieb. Es erfüllte ihn mit Freude zu beobachten, wie ein Jude sein Familienleben gestaltete.

133:3.2

Während Ganid das Familienleben studierte, lehrte Jesus den Krispus bessere Wege religiösen Lebens. Jesus hatte mit diesem aufgeschlossenen Juden mehr als zwanzig Unterredungen. Als Paulus Jahre danach in dieser nämlichen Synagoge predigte, die Juden aber seine Botschaft ablehnten und ihm durch Abstimmung alles weitere Predigen in der Synagoge untersagten, ging er zu den Heiden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Krispus mit seiner ganzen Familie die neue Religion annahm und zu einem der wichtigsten Pfeiler der christlichen Kirche wurde, die Paulus später in Korinth organisierte.

133:3.3

In den achtzehn Monaten seines Predigens in Korinth lernte Paulus, dem sich später Silas und Timotheus zugesellten, noch viele andere kennen, die von dem „jüdischen Hauslehrer des Sohnes eines indischen Kaufmanns“ Unterweisung empfangen hatten.

133:3.4

In Korinth begegneten sie Menschen aller Rassen aus drei Kontinenten. Nach Alexandria und Rom war Korinth die kosmopolitischste Stadt des Mittelmeerreichs. Es gab in ihr viel Sehenswertes, und Ganid wurde nie müde, die Zitadelle zu besuchen, die sich etwa sechshundert Meter über dem Meer erhob. Einen großen Teil seiner Freizeit verbrachte er auch um die Synagoge herum und im Hause des Krispus. Die Stellung der Frau im jüdischen Heim schockierte ihn zunächst, bezauberte ihn aber dann; es war für diesen jungen Inder wie eine Offenbarung.

133:3.5

Jesus und Ganid waren auch oft Gäste in einem anderen jüdischen Hause, nämlich in dem des Justus, eines frommen Kaufmannes, der gleich neben der Synagoge wohnte. Wenn der Apostel Paulus später in diesem Hause weilte, hörte er sich häufig die Berichte von den Besuchen des indischen Jungen und seines jüdischen Hauslehrers an, und Paulus und Justus fragten sich beide, was wohl aus einem so weisen und glänzenden hebräischen Lehrer geworden sein mochte.

133:3.6

In Rom hatte Ganid die Beobachtung gemacht, dass Jesus sich weigerte, sie in die öffentlichen Bäder zu begleiten. Danach versuchte der junge Mann mehrmals, Jesus dazu zu bringen, sich ausgiebiger über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu äußern. Er beantwortete zwar die Fragen des Jünglings, schien aber nie geneigt, sich über diese Themen ausführlicher auszulassen. Als sie eines Abends in Korinth umherschlenderten, wurden sie draußen, wo die Zitadellenmauer zum Meer hinunterlief, von zwei Dirnen angesprochen. Ganid war zu Recht von der Idee durchdrungen, dass Jesus ein Mann mit hohen Idealen sei und alles verabscheue, was mit Unreinheit behaftet war oder einen Beigeschmack von Schlechtigkeit hatte; demzufolge sprach er zu diesen Frauen in schroffem Ton und forderte sie unsanft zum Weggehen auf. Als Jesus das sah, sprach er zu Ganid: „Du meinst es gut, aber du solltest dir nicht anmaßen, in dieser Weise zu Kindern Gottes zu sprechen, auch wenn es zufällig seine auf Abwege geratenen Kinder sind. Wer sind wir, dass wir über diese Frauen zu Gericht sitzen dürfen? Kennst du etwa alle Umstände, die sie dazu geführt haben, zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zu solchen Methoden Zuflucht zu nehmen? Bleib hier mit mir stehen und lass uns über diese Dinge sprechen.“ Die Kurtisanen waren über das, was er sagte, sogar noch verwunderter als Ganid.

133:3.7

Während sie alle im Mondlicht dastanden, fuhr Jesus fort: „In jedem menschlichen Verstand lebt ein göttlicher Geist, die Gabe des Vaters im Himmel. Dieser gute Geist bemüht sich unaufhörlich, uns zu Gott zu führen, uns dabei zu helfen, Gott zu finden und ihn zu kennen; aber in den Menschen gibt es auch viele natürliche physische Anlagen, die der Schöpfer in sie gelegt hat, um dem Wohlbefinden des Einzelnen und der Rasse zu dienen. Nun geraten Männer und Frauen oft in Verwirrung bei ihrem Bemühen, sich selber zu verstehen und mit den vielfältigen Schwierigkeiten fertig zu werden, denen sie beim Verdienen ihres Lebensunterhaltes in einer Welt begegnen, die so weitgehend von Selbstsucht und Sünde beherrscht wird. Es scheint mir, Ganid, dass keine dieser beiden Frauen mit Willen verworfen ist. Ich kann an ihren Gesichtern erkennen, dass sie viel Leid durchgemacht haben. Sie haben durch ein offenbar grausames Schicksal viel gelitten; sie haben diese Art Leben nicht absichtlich gewählt; sie haben, entmutigt und am Rande der Verzweiflung, dem Druck des Augenblicks nachgegeben und dieses widerliche Mittel zum Lebensunterhalt als den besten Ausweg aus einer Lage akzeptiert, die ihnen hoffnungslos erschien. Ganid, gewisse Leute sind wirklich von Grund auf böse; sie tun vorsätzlich Niederträchtiges. Aber sag‘ mir, ob du etwas Schlechtes oder Verworfenes in diesen nun tränenbenetzten Gesichtern erblickst?“ Und während Jesus innehielt, um ihn antworten zu lassen, stammelte Ganid mit erstickter Stimme: „Nein, mein Lehrer, und ich entschuldige mich für meine Grobheit gegen sie – ich bitte sie dringend um Vergebung.“ Daraufhin sagte Jesus: „Und ich bestelle dir im Voraus von ihnen, dass sie dir vergeben haben, sowie ich im Namen meines Vaters im Himmel sage, dass er ihnen vergeben hat. Kommt nun alle mit mir in das Haus eines Freundes, wo wir um Erfrischung bitten und Pläne für ein neues und besseres Leben in der Zukunft schmieden wollen.“ Bis dahin hatten die völlig verblüfften Frauen kein Wort gesagt; sie schauten einander an und folgten schweigend, als die Männer vorausschritten.

133:3.8

Stellt euch die Überraschung der Frau des Justus vor, als Jesus zu dieser späten Stunde mit Ganid und den zwei Fremden erschien und sagte: „Entschuldige unser Kommen zu dieser späten Stunde, aber Ganid und ich hätten gerne eine Kleinigkeit zu essen, und wir möchten es mit diesen unseren neu gefundenen Freundinnen teilen, die ebenfalls Nahrung nötig haben; und außerdem kommen wir zu dir, weil wir denken, du könntest interessiert sein, mit uns darüber zu beratschlagen, wie wir diesen Frauen am besten helfen könnten, ein neues Leben zu beginnen. Sie können dir ihre Geschichte erzählen, aber ich vermute, dass sie Schweres durchgemacht haben, und allein ihre Gegenwart hier in diesem Hause bezeugt, wie ernsthaft sie sich danach sehnen, gute Menschen zu kennen, und wie willig sie die Gelegenheit wahrnehmen wollen, der ganzen Welt – und sogar den Engeln des Himmels – zu zeigen, was für mutige und edle Frauen sie werden können.“

133:3.9

Als Martha, die Frau des Justus, das Essen aufgetischt hatte, verabschiedete sich Jesus unerwartet und sagte: „Da es spät geworden ist und der Vater des jungen Mannes wohl auf uns wartet, bitten wir euch, uns zu entschuldigen, wenn wir euch – drei Frauen – die geliebten Kinder des Allerhöchsten, nun hier zusammen allein lassen. Und ich werde für eure geistige Führung beten, während ihr Pläne für ein neues und besseres Leben auf Erden und für das ewige Leben im großen Jenseits macht.“

133:3.10

Und so nahmen Jesus und Ganid von den Frauen Abschied. Bis dahin hatten die beiden Kurtisanen nichts gesagt; und Ganid war ebenso sprachlos. Auch Martha fand einige Augenblicke lang nichts zu sagen, aber rasch zeigte sie sich der Lage gewachsen und tat für diese Fremden alles, was Jesus erhofft hatte. Die ältere der beiden Frauen starb kurz darauf mit glänzenden Hoffnungen auf ewiges Fortleben, während die jüngere am Geschäftssitz des Justus arbeitete und später bis an ihr Lebensende Mitglied der ersten christlichen Kirche von Korinth war.

133:3.11

Oft trafen Jesus und Ganid im Hause des Justus einen gewissen Gaius, der später ein treuer Helfer des Paulus wurde. Während ihres zweimonatigen Aufenthaltes in Korinth führten sie mit Dutzenden von Personen, die es wert waren, vertrauliche Gespräche, und als Ergebnis all dieser scheinbar zufälligen Kontakte wurden mehr als die Hälfte der Betroffenen Mitglieder der späteren christlichen Gemeinde.

133:3.12

Als Paulus zum ersten Mal nach Korinth kam, hatte er nicht die Absicht, sich hier längere Zeit aufzuhalten. Aber er wusste nicht, wie gute Vorarbeit der jüdische Hauslehrer für sein Werk geleistet hatte. Des Weiteren entdeckte er, dass Aquila und Priscilla bereits großes Interesse geweckt hatten. Aquila war einer der Kyniker, mit denen Jesus in Rom in Kontakt gekommen war. Das jüdische Paar war aus Rom geflohen und nahm rasch die Lehren des Paulus an. Dieser lebte und arbeitete mit den beiden, denn auch sie waren Zeltmacher. Es war diesen Umständen zuzuschreiben, dass Paulus seinen Aufenthalt in Korinth verlängerte.


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