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Auf dem Weg nach Rom

5. Auf der Insel Kreta

130:5.1

Mit ihrem Ausflug nach Kreta verfolgten die Reisenden nur das eine Ziel, zu spielen, auf der Insel herumzuwandern und die Berge zu besteigen. Die Kreter jener Tage erfreuten sich unter den Nachbarvölkern keines beneidenswerten Rufs. Trotzdem gewannen Jesus und Ganid viele Seelen für höhere Ebenen des Denkens und Lebens und legten dadurch das Fundament zur späteren raschen Aufnahme der Lehren des Evangeliums, als die ersten Prediger von Jerusalem ankamen. Jesus liebte diese Kreter trotz der harten Worte, die Paulus später über sie sprach, als er Titus auf die Insel entsandte, um ihre Kirchen zu reorganisieren.

130:5.2

An einem Berghang auf Kreta hatte Jesus sein erstes langes Gespräch mit Gonod über Religion. Der Vater war sehr beeindruckt und sagte: „Kein Wunder, dass der Junge alles, was du ihm sagst, glaubt, aber ich hatte keine Ahnung, dass es in Jerusalem eine solche Religion gibt, und noch viel weniger in Damaskus.“ Während des Inselaufenthaltes schlug Gonod Jesus zum ersten Mal vor, mit ihnen nach Indien zurückzukehren, und Ganid war hocherfreut bei dem Gedanken, Jesus könnte einer solchen Abmachung zustimmen.

130:5.3

Als Ganid Jesus eines Tages fragte, wieso er sich nicht der Aufgabe eines öffen­tlichen Lehrers verschrieben habe, sagte er: „Mein Sohn, alles muss seine Zeit abwarten. Du wirst in die Welt geboren, aber kein noch so brennendes Verlangen noch alle Ungeduldsbezeugungen werden dir helfen heranzuwachsen. In allen diesen Dingen musst du die Zeit abwarten. Nur die Zeit wird die grüne Frucht auf dem Baum reifen lassen. Jahreszeit folgt auf Jahreszeit und Sonnenuntergang auf Sonnenaufgang nur mit der verrinnenden Zeit. Ich bin jetzt mit dir und deinem Vater unterwegs nach Rom, und das genügt für heute. Mein Morgen ruht ganz und gar in den Händen meines Vaters im Himmel.“ Und dann erzählte er Ganid die Geschichte von Moses und den vierzig Jahren wachsamen Wartens und ständiger Vorbereitung.

130:5.4

Einen Vorfall, der sich während eines Besuches in Kaloi Limenes zutrug, vergaß Ganid nie; die Erinnerung an dieses Ereignis rief in ihm immer den Wunsch wach, etwas zu unternehmen, um das Kastensystem seines indischen Vaterlandes zu ändern. Ein degenerierter Trunkenbold fiel auf öffentlicher Straße ein Sklavenmädchen an. Als Jesus die Notlage des Mädchens sah, stürzte er nach vorn und entzog es dem Angriff des Verrückten. Während das erschrockene Kind sich an ihn klammerte, hielt er den Rasenden mit seinem kräftigen ausgestreckten rechten Arm in sicherer Distanz, bis der jämmerliche Kerl sich mit wilden Schlägen in die Luft erschöpft hatte. Ganid fühlte sich stark gedrängt, Jesus beizustehen, aber sein Vater verbot es ihm. Obwohl sie die Sprache des Mädchens nicht sprechen konnten, vermochte es doch, ihr barmherziges Handeln zu verstehen, und es gab seiner tiefempfundenen Dankbarkeit Ausdruck, während alle drei es nach Hause begleiteten. Das war wahrscheinlich der engste persönliche Zusammenstoß, den Jesus mit einem seiner Mitmenschen während seines ganzen Erdenlebens hatte. Aber er stand an diesem Abend vor einer schwierigen Aufgabe, als er Ganid zu erklären versuchte, wieso er den betrunkenen Mann nicht geschlagen hatte. Ganid meinte, dieser Mann hätte zumindest ebenso oft geschlagen werden sollen, wie er das Mädchen geschlagen hatte.


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