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Jesus in Jerusalem

2. Jesus und Passah

125:2.1

Fünf Familien aus Nazareth waren die Gäste bzw. Freunde der Familie Simons von Bethanien bei der Passahfeier. Simon hatte das Passahlamm für die ganze Gesellschaft gekauft. Gerade die Abschlachtung dieser Lämmer in riesiger Zahl hatte Jesus während seines Tempelbesuchs so mitgenommen. Es war geplant, das Passahmahl mit Marias Verwandten einzunehmen, aber Jesus überredete seine Eltern, die Einladung nach Bethanien anzunehmen.

125:2.2

An diesem Abend kamen sie für die Passahrituale zusammen und aßen das gebratene Fleisch mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern. Da Jesus nun ein neuer Sohn des Bundes war, forderte man ihn auf, den Ursprung des Passahfestes zu erzählen, was er gut machte; aber er beunruhigte seine Eltern ein wenig durch die Einflechtung zahlreicher Bemerkungen, welche in milder Form die Eindrücke wiedergaben, die die kürzlich gesehenen und gehörten Dinge in seinem jugendlichen, aber nachdenklichen Gemüt hinterlassen hatten. Das war der Beginn der siebentägigen Feierlichkeiten des Passahfestes.

125:2.3

Obwohl er seinen Eltern solche Angelegenheiten verschwieg, hatte Jesus schon so früh darüber nachzusinnen begonnen, ob es angemessen wäre, Passah ohne das geschlachtete Lamm zu feiern. Er fühlte in sich die Gewissheit, dass der Vater im Himmel sich an diesem Anblick der Opfergaben nicht erfreute, und im Laufe der Jahre wurde er immer entschlossener, eines Tages die Passahfeier ohne Blutver­gießen einzuführen.

125:2.4

In dieser Nacht schlief Jesus nur sehr wenig. Abstoßende Träume von Schlächtereien und Leiden beeinträchtigten seine Nachtruhe sehr. Sein Sinn war aufgewühlt und sein Herz zerrissen angesichts der Ungereimtheiten und Absurditäten der Theologie des ganzen jüdischen zeremoniellen Systems. Auch seine Eltern schliefen kaum. Die Ereignisse des gerade zu Ende gegangenen Tages beunruhigten sie sehr. Sie waren in ihren Herzen völlig aus der Fassung gebracht durch die ihrer Meinung nach befremdliche und entschlossene Haltung des Jungen. Maria litt während der ersten Hälfte der Nacht unter nervösen Störungen, aber Joseph bewahrte seine Ruhe, obwohl auch er vor einem Rätsel stand. Beide hatten Angst, offen mit dem Jungen über diese Probleme zu sprechen, obgleich Jesus über eine Aussprache mit seinen Eltern glücklich gewesen wäre, wenn sie nur gewagt hätten, ihn dazu zu ermutigen.

125:2.5

Die Gottesdienste des nächsten Tages im Tempel waren für Jesus annehmbarer und trugen viel dazu bei, die unerfreulichen Eindrücke des Vortages abzuschwächen. Am darauf folgenden Morgen nahm sich der junge Lazarus Jesu an, und sie begannen, Jerusalem und seine Umgebung systematisch zu erkunden. Vor Tagesende hatte Jesus die verschiedenen Orte rund um den Tempel ausfindig gemacht, wo Lehr- und Fragestunden abliefen; abgesehen von einigen Besuchen im Allerheiligsten, wo er sich staunend fragte, was sich wohl wirklich hinter dem Trennungsschleier verberge, verbrachte er die meiste Zeit im Tempelbereich und bei den Lehrvorträgen.

125:2.6

Während der ganzen Passahwoche behielt Jesus seinen Platz inmitten der neuen Söhne des Gebotes, und das bedeutete, dass er sich außerhalb des Geländers zu setzen hatte, das alle Personen, die nicht vollwertige Bürger Israels waren, absonderte. In dieser Weise auf seine Jugend aufmerksam gemacht, enthielt er sich der vielen Fragen, die in seinem Geiste auftauchten; wenigstens enthielt er sich ihrer solange, bis die Passahfeierlichkeiten vorüber und die Beschränkungen für die neu geweihten Jugendlichen aufgehoben waren.

125:2.7

Am Mittwoch der Passahwoche erhielt Jesus die Erlaubnis, Lazarus nach Hause zu begleiten und die Nacht in Bethanien zu verbringen. An diesem Abend hörten Lazarus, Martha und Maria Jesus von zeitlichen und ewigen, menschlichen und göttlichen Dingen sprechen, und von diesem Abend an liebten ihn alle drei, als wäre er ihr eigener Bruder.

125:2.8

Am Wochenende sah Jesus Lazarus weniger oft, da dieser nicht einmal zur Zulassung im äußeren Kreis der Tempeldiskussionen berechtigt war, aber wenigstens einigen öffentlichen Reden beiwohnte, die in den äußeren Höfen gehalten wurden. Lazarus war gleich alt wie Jesus, aber in Jerusalem waren die Jungen selten zur Weihe der Söhne des Gesetzes vor vollendetem dreizehntem Lebensjahr zugelassen.

125:2.9

Während der Passahwoche fanden Jesu Eltern ihn immer wieder abseits für sich dasitzen, den jugendlichen Kopf in den Händen und tief in Gedanken versunken. Sie hatten ihn sich nie so verhalten gesehen, und da sie nicht wussten, wie sehr seine Gedanken in Aufruhr und sein Geist in Bedrängnis waren wegen der Erfahrung, die er durchlebte, waren sie in arger Verlegenheit; sie wussten nicht, was sie tun sollten. Sie waren froh, dass die Tage der Passahwoche vorübergingen, und sehnten sich danach, ihren sich so seltsam gebärdenden Sohn sicher in Nazareth zurück zu haben.

125:2.10

Tag für Tag durchdachte Jesus all seine Probleme. Bis zum Wochenende hatte er manches zurechtgerückt; aber als es an der Zeit war, nach Nazareth zurückzukehren, wimmelte es in seinem jugendlichen Geist immer noch von Unge­wiss­heiten, und eine Menge unbeantworteter Fragen und ungelöster Probleme bedrängte ihn.

125:2.11

Vor ihrer Abreise aus Jerusalem trafen Joseph und Maria zusammen mit Jesu Lehrer aus Nazareth endgültige Abmachungen, dass Jesus mit Erreichen des fünfzehnten Lebensjahres zurückkehren solle, um mit seinem langen Studien­gang an einer der bestbekannten Rabbiner-Akademien zu beginnen. Jesus begleitete seine Eltern und seinen Lehrer bei ihren Schulbesuchen, aber sie waren alle unglücklich festzustellen, wie unberührt er von allem, was sie sagten und taten, zu sein schien. Seine Reaktionen auf den Besuch Jerusalems erfüllten Maria mit tiefem Schmerz, und Joseph war völlig aus der Fassung gebracht durch die seltsamen Bemerkungen und das ungewöhnliche Verhalten des Jungen.

125:2.12

Alles in allem war die Passahwoche ein großes Ereignis in Jesu Leben gewesen. Er hatte sich über die Gelegenheit gefreut, mit einer großen Anzahl gleichaltriger Knaben Bekanntschaft zu machen, die wie er Kandidaten für die Weihe waren, und er nutzte solche Kontakte als Mittel zu erfahren, wie die Leute in Mesopotamien, Turkestan und Parthien und in den fernen westlichen Provinzen Roms lebten. Er war schon recht gut vertraut damit, wie die Jugend Ägyptens und anderer Gegenden in der Nähe Palästinas aufwuchs. Zu jenem Zeitpunkt waren Tausende von jungen Leuten in Jerusalem anwesend, und der Knabe aus Nazareth machte persönlich Bekanntschaft mit über hundertfünfzig von ihnen und befragte sie mehr oder weniger eingehend. Besonderes Interesse brachte er jenen entgegen, die aus den fernöstlichen und abgelegenen westlichen Ländern kamen. Diese Kontakte hatten zur Folge, dass der Junge fortan den Wunsch verspürte, die Welt zu bereisen, um zu erfahren, wie die verschiedenen Gruppen seiner Mitmenschen sich für ihr Fortkommen abmühten.


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