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Die spätere Kindheit Jesu

6. Die Reise nach Jerusalem

124:6.1

Jesus, der nun die Schwelle des Jünglingsalters erreicht und seine Abschluss­prüfung an der Synagogenschule in aller Form bestanden hatte, erfüllte die Voraussetzungen, um sich mit seinen Eltern nach Jerusalem zu begeben und dort mit ihnen an seinem ersten Passahfest teilzunehmen. Das Passahfest dieses Jahres fiel auf Samstag, den 9. April 7 n. Chr. Eine ansehnliche Schar (103 Personen) war am Montagmorgen, dem 4. April, bereit, sich von Nazareth nach Jerusalem aufzumachen. Sie reisten südwärts in Richtung Samarien, bogen aber in Jesreel nach Osten ab und gingen um den Berg Gilboa herum ins Jordantal, um eine Durchquerung Samariens zu vermeiden. Joseph und seine Familie wären gerne auf dem Weg des Jakobsbrunnens und Bethels durch Samarien gezogen, aber da es den Juden widerstrebte, mit den Samaritanern zu tun zu haben, entschlossen sie sich, zusammen mit ihren Nachbarn den Weg durchs Jordantal zu gehen.

124:6.2

Der viel gefürchtete Archelaus war abgesetzt worden, und sie hatten kaum etwas zu befürchten, wenn sie Jesus nach Jerusalem mitnahmen. Zwölf Jahre waren vergangen, seit Herodes der Erste dem Kind von Betlehem nach dem Leben getrachtet hatte, und niemand wäre jetzt noch auf den Gedanken gekommen, zwischen jenem Ereignis und dem unbekannten Jungen aus Nazareth eine Verbindung herzustellen.

124:6.3

Sehr bald, noch vor der Wegscheide von Jesreel, zogen sie am alten Dorf Sumen zu ihrer Linken vorüber, und wiederum hörte Jesus vom schönsten Mädchen ganz Israels erzählen, das einst hier gelebt, und von den wunderbaren Taten, die Elisa hier vollbracht hatte. Als sie an Jesreel vorüberkamen, erzählten Jesu Eltern die Geschichte Achabs und Isebels und die Taten Jehus. Als sie den Berg Gilboa umwanderten, sprachen sie viel über Saul, der sich am Abhang dieses Bergs das Leben genommen hatte, über König David und das mit diesem historischen Ort Verbundene.

124:6.4

Während sie so am Fuß des Gilboa entlang wanderten, konnten die Pilger zu ihrer Linken die griechische Stadt Skythopolis sehen. Sie wurden der Marmor­gebäude aus der Ferne ansichtig, aber näherten sich der heidnischen Stadt nicht aus Furcht, sich zu verunreinigen und danach nicht an den bevorstehenden feierlichen und heiligen Passahfesthandlungen in Jerusalem teilnehmen zu können. Maria konnte nicht verstehen, wieso weder Joseph noch Jesus von Skythopolis sprechen wollten. Sie wusste nichts von ihrer Auseinandersetzung im vorausgegangenen Jahr, da sie ihr nie etwas von diesem Vorkommnis erzählt hatten.

124:6.5

Die Straße führte nun geradewegs ins tropische Jordantal hinunter, und bald bot sich dem staunenden Auge Jesu der verschlungene und windungsreiche Lauf des Jordans dar, der mit seinen glitzernden und gekräuselten Wassern zum Toten Meer hinabfloss. Auf ihrer Wanderung gegen Süden durch dieses tropische Tal legten sie ihre wärmere Kleidung ab und freuten sich über die üppigen Kornfelder und herrlichen, mit rosa Blüten beladenen Oleandersträuche, während weit im Norden der gewaltige, schneebedeckte Berg Hermon aufragte und majestätisch auf das historische Tal hinunterblickte. Seit Skythopolis waren sie mehr als drei Stunden gewandert, als sie zu einer sprudelnden Quelle kamen, wo sie sich unter dem sternenübersäten Himmel für die Nacht niederließen.

124:6.6

An ihrem zweiten Reisetag kamen sie an der Stelle vorbei, wo der Jabbok aus Osten in den Jordan einmündet, und, mit den Augen dem Flusstal nach Osten folgend, ließen sie die Tage Gideons aufleben, als die Midianiter in diese Gegend einfielen und das Land überrannten. Gegen Ende des zweiten Reisetages lagerten sie am Fuße des Sartaba, des höchsten das Jordantal überblickenden Berges. Auf seinem Gipfel stand die alexandrinische Festung, wo Herodes eine seiner Frauen gefangen gehalten und seine zwei erwürgten Söhne begraben hatte.

124:6.7

Am dritten Tag kamen sie an zwei kurze Zeit zuvor von Herodes erbauten Dörfern vorüber, deren erlesene Architektur und schöne Palmengärten ihnen auffielen. Mit Einbruch der Nacht erreichten sie Jericho, wo sie bis zum nächsten Morgen blieben. An diesem Abend wanderten Joseph, Maria und Jesus zur gut drei Kilometer entfernten Stelle des alten Jericho hinaus, wo Josua, nach dem Jesus benannt war, laut jüdischer Tradition seine berühmten Taten vollbracht hatte.

124:6.8

Am vierten und letzten Reisetag war die Straße eine ununterbrochene Prozession von Pilgern. Nun begannen sie die Jerusalem vorgelagerten Höhen hinan­zusteigen. Als sie sich dem Gipfel näherten, konnten sie die jenseits des Jordans liegenden Berge und im Süden die trägen Wasser des Toten Meeres sehen. Ungefähr auf halbem Wege nach Jerusalem erblickte Jesus zum ersten Mal den Ölberg (den Ort, der ein so wichtiger Teil seines späteren Lebens werden sollte), und Joseph machte ihn darauf aufmerksam, dass die heilige Stadt gerade hinter diesem Bergrücken liege. Das Herz des Jungen schlug schnell in freudiger Erwar­tung des baldigen Anblicks der Stadt und des Hauses seines himmlischen Vaters.

124:6.9

Auf dem östlichen Abhang des Ölberges hielten sie am Rande eines kleinen Dorfes namens Bethanien an, um auszuruhen. Die gastfreundlichen Dorfbewohner kamen heraus, um sich der Pilger anzunehmen, und es traf sich, dass Joseph mit seiner Familie nahe dem Haus eines gewissen Simon halt gemacht hatte, der drei Kinder ungefähr in Jesu Alter besaß – Maria, Martha und Lazarus. Sie luden die Familie aus Nazareth ein hereinzukommen, um sich zu erfrischen, und eine lebenslange Freundschaft entstand zwischen den beiden Familien. Viele Male machte Jesus später in seinem ereignisreichen Leben in diesem Hause Halt.

124:6.10

Sie hatten Eile weiterzugehen, standen bald auf der Kuppe des Ölberges, und Jesus sah zum ersten Mal (in seiner Erinnerung) die Heilige Stadt, die anmaßenden Paläste und den inspirierenden Tempel seines Vaters. Zu keiner Zeit seines Lebens erlebte Jesus so eine rein menschliche Erregung wie jene, die ihn ganz und gar ergriff, als er an diesem Aprilnachmittag auf dem Ölberg stand und zum ersten Mal den Anblick Jerusalems in sich aufnahm. Jahre danach stand er an derselben Stelle und weinte über die Stadt, die sich wiederum anschickte, einen Propheten, den letzten und größten ihrer himmlischen Lehrer, zurückzuweisen.

124:6.11

Sie eilten nach Jerusalem weiter. Es war jetzt Donnerstagnachmittag. In der Stadt angelangt, kamen sie am Tempel vorbei, und noch nie hatte Jesus so dichtgedrängte Menschenmassen gesehen. Er sann intensiv darüber nach, wie sich diese Juden aus den entlegensten Gebieten der bekannten Welt hier versammelt hatten.

124:6.12

Bald erreichten sie den im Voraus bestimmten Ort ihrer Unterkunft während der Passahwoche, das große Haus eines wohlhabenden Verwandten Marias, dem durch Zacharias etwas von der frühen Geschichte von Johannes und Jesus bekannt war. Am folgenden Tag, dem Tag der Vorbereitung, rüsteten sie sich zur angemessenen Begehung des Passahsabbats.

124:6.13

Während ganz Jerusalem auf den Beinen war, um das Passahfest vorzubereiten, fand Joseph Zeit, seinen Sohn zu einem Besuch der Akademie mitzunehmen, wo er einer für ihn getroffenen Abmachung gemäß zwei Jahre später, sobald er das erforderliche Alter von fünfzehn Jahren erreicht haben würde, seine Ausbildung fortsetzen sollte. Joseph stand wirklich vor einem Rätsel angesichts des geringen Interesses, das Jesus für all diese so sorgfältig ausgearbeiteten Pläne bekundete.

124:6.14

Jesus war vom Tempel und all den damit verbundenen Diensten und anderen Tätigkeiten tief beeindruckt. Zum ersten Mal seit seinem vierten Lebensjahr war er mit seinen eigenen Betrachtungen zu sehr beschäftigt, um viele Fragen zu stellen. Trotzdem richtete er an seinen Vater (wie bei früheren Gelegenheiten) einige unbequeme Fragen, wie z. B. diejenige nach dem Grund, weshalb der himmlische Vater die Abschlachtung so vieler unschuldiger und hilfloser Tiere verlange. Und sein Vater konnte an Jesu Gesichtsausdruck gut ablesen, dass seine Antworten und Erklärungsversuche für seinen tiefsinnigen und scharf urteilenden Sohn unbefriedigend ausfielen.

124:6.15

Am Abend des Passah-Sabbats rollten Flutwellen geistiger Erleuchtung durch das sterbliche Bewusstsein Jesu und füllten sein menschliches Herz bis zum Überquellen mit liebendem Erbarmen für die geistig blinden und sittlich unwissenden Massen, die da zur alten Passaherinnerungsfeier versammelt waren. Dies war einer der außerordentlichsten Tage, die der Mensch gewordene Sohn Gottes erlebte; und während der Nacht erschien ihm zum ersten Mal auf seinem irdischen Lebensweg ein von Immanuel beauftragter Bote aus Salvington, der sagte: „Die Stunde ist gekommen. Es ist Zeit, dass du beginnst, dich um die Angelegenheiten deines Vaters zu kümmern.“

124:6.16

So kam jetzt, noch bevor die schwere Verantwortung für die Familie von Nazareth auf seine jungen Schultern fiel, ein himmlischer Bote daher, um diesen noch nicht ganz dreizehnjährigen Jungen daran zu erinnern, dass die Stunde gekommen sei, damit zu beginnen, die Verantwortung für ein ganzes Universum wieder aufzunehmen. Dies war der Auftakt zu einer langen Reihe von Ereignissen, die schließlich in der Erfüllung der Selbsthingabe des Sohnes auf Urantia und in der erneuten Übertragung „der Herrschaft über ein Universum auf seine menschlich-göttlichen Schultern“ gipfelten.

124:6.17

Je mehr Zeit verstrich, umso unergründlicher erschien uns allen das Geheimnis der Menschwerdung Jesu. Es fiel uns schwer zu verstehen, dass dieser Junge aus Nazareth der Schöpfer von ganz Nebadon war. Wir fassen es heute noch nicht, wie der Geist eben dieses Schöpfersohns und der Geist seines Vaters im Paradies mit den Seelen der Menschen verbunden sind. Wie wir im Laufe der Zeit feststellten, erlangte sein menschlicher Verstand mehr und mehr Klarheit darüber, dass, während er sein Leben im Körper lebte, im Geiste auf seinen Schultern die Verantwortung für ein Universum ruhte.

124:6.18

Damit endet der Werdegang des Knaben von Nazareth und beginnt die Geschichte des heranwachsenden Jünglings – des sich seiner selbst immer bewusster werdenden göttlichen Menschen – der sich nun anschickt, über seinen weltlichen Lebensweg nachzusinnen, während er sich gleichzeitig bemüht, seine sich entfaltende Lebensaufgabe mit den Wünschen seiner Eltern und den Verpflichtungen gegenüber seiner Familie und der damaligen Gesellschaft in Einklang zu bringen.


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