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Schrift 123
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Die frühe Kindheit Jesu

3. Ereignisse des sechsten Jahres (1 v. Chr.)

123:3.1

Schon beherrschte Jesus dank der Hilfe seiner Mutter den galiläischen Dialekt der aramäischen Sprache; und nun begann sein Vater, ihn in Griechisch zu unterrichten. Maria konnte nur wenig Griechisch, aber Joseph sprach sowohl Aramäisch als auch Griechisch fließend. Als Lehrbuch zum Studium der griechischen Sprache diente das Exemplar der hebräischen Schriften – eine vollständige Übersetzung des Gesetzes und der Propheten unter Einschluss der Psalmen – die sie beim Verlassen Ägyptens als Geschenk erhalten hatten. Es gab in ganz Nazareth nur zwei vollständige Exemplare der Schriften, und der Umstand, dass die eine davon sich im Besitz der Zimmermannsfamilie befand, machte aus Josephs Heim einen viel besuchten Ort und verschaffte dem heranwachsenden Jesus die Begegnung mit einer nahezu endlosen Reihe von sich ernsthaft bemühenden Studierenden und aufrichtigen Wahrheitssuchenden. Noch vor diesem Jahresende wurde das unschätzbare Manuskript der Obhut Jesu anvertraut. An seinem sechsten Geburtstag hatte er erfahren, dass das heilige Buch ihm von Freunden und Verwandten in Alexandria geschenkt worden war. Nach sehr kurzer Zeit konnte er es mühelos lesen.

123:3.2

Der erste große Schock im jungen Leben Jesu ereignete sich, als er noch nicht ganz sechs Jahre alt war. Es hatte dem Knaben geschienen, als ob sein Vater, oder zumindest Vater und Mutter zusammengenommen, allwissend seien. Man stelle sich deshalb das Erstaunen des wissbegierigen Kindes vor, das auf seine Frage nach der Ursache eines leichten Erdbebens seinen Vater sagen hörte: „Mein Sohn, ich weiß es wirklich nicht.“ So begann jene lange und beunruhigende Desillusionierung, in deren Verlauf Jesus herausfand, dass seine irdischen Eltern weder allweise noch allwissend waren.

123:3.3

Josephs erster Gedanke war, Jesus zu sagen, Gott habe das Erdbeben verursacht, aber eine kurze Überlegung warnte ihn, dass eine solche Antwort sofort weitere und noch unbequemere Fragen hervorrufen würde. Schon in einem sehr frühen Alter fiel es schwer, Jesu Fragen bezüglich physischer oder sozialer Phänomene damit abzutun, dass man ihm gedankenlos sagte, Gott oder der Teufel sei dafür verantwortlich. In Übereinstimmung mit dem vorherrschenden Glauben der Juden war Jesus lange Zeit bereit, die Lehre von den guten und bösen Geistern als mögliche Erklärung mentaler und geistiger Phänomene anzunehmen, aber es stiegen schon sehr früh Zweifel in ihm auf, ob solche unsichtbaren Einflüsse auch für die physischen Ereignisse der Natur verantwortlich zu machen seien.

123:3.4

Im Frühsommer des Jahres 1 v. Chr., bevor Jesus sechs Jahre alt war, kamen Zacharias, Elisabeth und ihr Sohn Johannes zur Familie von Nazareth auf Besuch. Jesus und Johannes verbrachten miteinander eine glückliche Zeit während dieses in ihrer Erinnerung ersten Besuches. Obwohl die Besucher nur einige Tage bleiben konnten, sprachen die Eltern über vieles, einschließlich der Zukunftspläne für ihre Söhne. Während sie damit beschäftigt waren, spielten die Kinder oben auf dem Dach mit Klötzen im Sand und vergnügten sich nach richtiger Jungenart auf manch andere Weise.

123:3.5

Nach dem Zusammensein mit Johannes, der aus der Nähe Jerusalems kam, begann Jesus ein ungewöhnliches Interesse an der Geschichte Israels zu zeigen und sich bis in kleinste Einzelheiten nach der Bedeutung der Sabbatbräuche, der Predigten in der Synagoge und der periodisch wiederkehrenden Erinne­rungsfeste zu erkundigen. Sein Vater erklärte ihm die Bedeutung all dieser Festzeiten. Die erste, mitten im Winter, war die acht Tage dauernde festliche Beleuchtung, die mit einer Kerze am ersten Abend begann, welcher an jedem folgenden Abend eine neue hinzugefügt wurde; dies geschah im Gedenken an die feierliche Weihe des Tempels nach der Wiederherstellung des mosaischen Zeremoniells durch Judas Makkabäus. Als nächste kam zu Frühlingsbeginn die Purimsfeier, das Fest Esthers und der Befreiung Israels durch sie. Dann folgte das feierliche Passahfest, das die Erwachsenen, wenn immer möglich, in Jerusalem begingen, während die Kinder zu Hause daran denken mussten, dass die ganze Woche über nur ungesäuertes Brot gegessen werden durfte. Später kam das Fest der ersten Früchte, die Einbringung der Ernte; und zuletzt, das feierlichste von allen, das Neujahrsfest oder der Tag der Versöhnung. Obwohl einige dieser Feierlichkeiten und Gebräuche dem jungen Fassungsvermögen Jesu Schwierigkeiten bereiteten, so dachte er doch ernsthaft darüber nach und überließ sich dann ganz und gar der Freude des Laubhüttenfestes. Das war für das ganze jüdische Volk die jährliche Ferienzeit, während der sie alle in blättergeschmückten Hütten hausten und sich der Fröhlichkeit und Vergnügungen hingaben.

123:3.6

Im Laufe dieses Jahres hatten Joseph und Maria mit Jesus Schwierigkeiten wegen seiner Gebete. Er bestand darauf, mit seinem himmlischen Vater ungefähr so zu sprechen wie mit Joseph, seinem irdischen Vater. Diese Abkehr von den feierlicheren und ehrerbietigeren Formen der Kommunikation mit der Gottheit befremdete seine Eltern ein wenig, insbesondere seine Mutter, aber trotz allem Zureden war er nicht davon abzubringen. Er sagte seine Gebete, wie er es gelernt hatte, aber danach bestand er darauf, „nur gerade ein bisschen mit meinem Vater im Himmel“ zu sprechen.

123:3.7

Im Juni dieses Jahres übergab Joseph seinen Brüdern die Werkstatt in Nazareth und arbeitete von da an ganz als Bauunternehmer. Vor Jahresende hatte sich das Familieneinkommen mehr als verdreifacht. Nie wieder bis nach Josephs Tod fühlte die Familie in Nazareth den Druck der Armut. Die Familie wurde immer größer, und viel Geld wurde für zusätzliche Erziehung und Reisen ausgegeben; aber Josephs wachsendes Einkommen hielt stets mit den zuneh­men­den Ausgaben Schritt.

123:3.8

In den nächsten paar Jahren unternahm Joseph größere Arbeiten in Kana, Betlehem (in Galiläa), Magdala, Nain, Sepphoris, Kapernaum und Endor, und baute viel in Nazareth und außerhalb. Als Jakobus alt genug geworden war, um seiner Mutter im Haushalt und bei der Versorgung der jüngeren Geschwister zu helfen, begab sich Jesus oft mit seinem Vater von zu Hause fort in diese Städte und Dörfer der Umgebung. Jesus war ein scharfer Beobachter und erwarb auf diesen Ausflügen fern von daheim viele praktische Kenntnisse. Unermüdlich erweiterte er sein Wissen über die Menschen und ihre Lebensweise auf dieser Erde.

123:3.9

In diesem Jahr gelang es Jesus immer besser, seine starken Gefühle und kräftigen Impulse den Anforderungen des Zusammenlebens in der Familie und der häuslichen Disziplin anzupassen. Maria war eine liebende Mutter, hielt aber eine recht strenge Disziplin. Indessen übte Joseph in mancher Hinsicht größere Autorität über Jesus aus, da es seine Gewohnheit war, sich mit dem Knaben hinzusetzen und ihm in aller Ausführlichkeit die wirklichen Gründe zu erklären, die eine disziplinarische Beschneidung persönlicher Wünsche aus Rücksichtnahme auf das Wohlergehen und die Ruhe der ganzen Familie erforderten. Nachdem man ihm die Situation auseinandergesetzt hatte, kam Jesus den elterlichen Wünschen und Familienregeln immer einsichtig und willig nach.

123:3.10

Wenn seine Mutter seine Hilfe im Haus nicht benötigte, verbrachte er einen großen Teil seiner Freizeit mit dem Beobachten von Blumen und Pflanzen bei Tag und der Sterne des Nachts. Er bekundete eine beunruhigende Neigung, noch lange nach der in diesem geordneten Haushalt Nazareths üblichen Schlafenszeit auf dem Rücken zu liegen und mit Staunen zum Sternenhimmel aufzuschauen.


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