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Der Justierer und die Seele

6. Das menschliche Paradox

111:6.1

Dem sterblichen Menschen erwachsen viele seiner zeitlichen Schwierigkeiten aus seiner zweifachen Beziehung zum Kosmos. Der Mensch ist ein Teil der Natur – er existiert in der Natur – und doch ist er fähig, die Natur zu transzendieren. Der Mensch ist endlich, aber er wird von einem Funken der Unendlichkeit bewohnt. Diese doppelte Situation liefert nicht nur das Potential zum Üblen, sondern schafft auch viele gesellschaftliche und sittliche Situationen, die mit viel Unsicherheit und recht großer Angst verbunden sind.

111:6.2

Der Mut, den es zur Bezwingung der Natur und zur Transzendierung des Selbst braucht, ist ein Mut, welcher den Versuchungen des Hochmutes erliegen könnte. Der Sterbliche, der sein Selbst transzendieren kann, könnte der Versu­chung nachgeben, sein eigenes Selbstbewusstsein zu vergotten. Das Dilem­ma des Sterblichen liegt in der doppelten Tatsache, dass der Mensch in den Fesseln der Natur liegt und zugleich eine einmalige Freiheit besitzt – die Freiheit geistigen Wählens und Handelns. Auf den materiellen Ebenen sieht sich der Mensch der Natur unterworfen, während er auf geistigen Ebenen über die Natur und alle zeitlichen und endlichen Dinge triumphiert. Ein solches Paradox ist untrennbar verbunden mit Versuchung, potentiell Üblem und Entschei­dungsirrtümern; und wenn das Selbst hochmütig und arrogant wird, kann sich daraus Sünde entwickeln.

111:6.3

Das Problem der Sünde existiert nicht eigenständig in der endlichen Welt. Die Tatsache der Endlichkeit ist weder schlecht noch sündhaft. Die endliche Welt wurde von einem unendlichen Schöpfer erschaffen – sie ist das Werk seiner göttlichen Söhne – und deshalb muss sie gut sein. Falscher Gebrauch, Verzerrung und Pervertierung des Endlichen sind das, was Übel und Sünde entstehen lässt.

111:6.4

Der Geist kann den Verstand beherrschen; ebenso kann der Verstand die Energie kontrollieren. Aber der Verstand kann die Energie nur durch seine eigene intelligente Handhabung der verwandlungsfähigen Potentiale kontrollieren, die in der Natur der mathematischen Ebenen von Ursache und Wirkung des physischen Bereichs liegen. Dem Geschöpfesverstand ist die Beherrschung der Energie nicht angeboren; das ist ein Vorrecht der Gottheit. Aber der Geschöpfesverstand kann die Energie soweit manipulieren und tut es auch, wie er Meister der Energiegeheimnisse des physischen Universums geworden ist.

111:6.5

Wenn der Mensch die physische Realität, sei es sich selber oder seine Umgebung, zu verändern wünscht, wird er dabei in dem Maße Erfolg haben, wie er die Mittel und Wege zur Beherrschung der Materie und Steuerung der Energie entdeckt hat. Ohne Hilfe ist der Verstand unfähig, irgendetwas Materielles zu beeinflussen außer seinem eigenen physischen Mechanismus, an den er unentrinnbar gebunden ist. Aber durch den intelligenten Gebrauch des Körper­mecha­nismus kann der Verstand andere Mechanismen, sogar energetische und lebendige Beziehungen, erschaffen, durch deren Einsatz er seine physische Univer­sumsebene immer besser kontrollieren und sogar beherrschen kann.

111:6.6

Die Wissenschaft ist die Quelle von Tatsachen, und der Verstand kann ohne Tatsachen nicht wirken. Diese sind beim Aufbau der Weisheit die Bausteine, die vom Zement der Lebenserfahrung aneinander gebunden werden. Der Mensch kann Gottes Liebe ohne Tatsachen finden, und der Mensch kann Gottes Gesetze ohne Liebe entdecken, aber nie kann er beginnen, die unendliche Symmetrie, himmlische Harmonie und herrliche Fülle der allumfassenden Natur des Ersten Zentralen Ursprungs zu würdigen, bevor er göttliches Gesetz und göttliche Liebe gefunden und sie auf dem Erfahrungsweg in seiner eigenen, sich entwickelnden kosmischen Philosophie geeint hat.

111:6.7

Die Vermehrung materiellen Wissens erlaubt eine größere intellektuelle Würdigung der Bedeutung von Ideen und der Werte von Idealen. Ein menschliches Wesen kann die Wahrheit in seiner inneren Erfahrung finden, aber es braucht eine klare Kenntnis der Tatsachen, um seine persönliche Entdeckung der Wahrheit auf die unerbittlichen praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens anzuwenden.

111:6.8

Es ist nur natürlich, dass der sterbliche Mensch von Gefühlen der Unsicher­heit bedrängt wird, wenn er sich unauflösbar an die Natur gebunden sieht, während er geistige Kräfte besitzt, die alle zeitlichen und endlichen Dinge völlig transzendieren. Nur religiöses Vertrauen – lebendiger Glaube – kann dem Menschen inmitten solch schwieriger und verwirrender Probleme Halt geben.

111:6.9

Von allen Gefahren, die die sterbliche Natur des Menschen belagern und seine geistige Integrität gefährden, ist der Hochmut die größte. Mut ist heldenhaft, aber Selbstüberhebung ist prahlerisch und selbstmörderisch. Ein vernünftiges Selbstvertrauen ist nicht zu beklagen. Die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen, ist das Besondere, was ihn vom Tierreich unterscheidet.

111:6.10

Hochmut ist betrügerisch, berauschend und gebiert Sünde, ob er sich in einem Einzelnen, einer Gruppe, einer Rasse oder einer Nation findet. Es ist buchstäblich wahr, dass „Hochmut vor dem Fall kommt“.


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