◄ 103:1
Schrift 103
103:3 ►

Die Realität religiöser Erfahrung

2. Religion und der Einzelne

103:2.1

Schon bevor die Religion in das menschliche Bewusstsein eintritt, wirkt sie im menschlichen Verstand und ist als Erfahrung verwirklicht worden. Ein Kind hat bereits etwa neun Monate lang existiert, bevor es die Erfahrung der Geburt macht. Aber die „Geburt“ der Religion ist nichts Plötzliches; es handelt sich vielmehr um ein allmähliches Erwachen. Trotzdem gibt es früher oder später einen „Tag der Geburt“. Man findet keinen Eintritt ins Königreich des Himmels, außer man sei „wiedergeboren“ – aus dem Geiste geboren. Viele geistige Geburten sind von großer geistiger Angst und ausgeprägten psychologischen Störungen begleitet, gerade so wie viele physische Geburten durch „starke Wehen“ und andere Anomalien der „Entbindung“ gekennzeichnet werden. Andere geistige Geburten sind ein natürliches und normales Wachstum des Erkennens höchster Werte, einhergehend mit einer verstärkten geis­tigen Erfahrung, obwohl keine religiöse Entwicklung ohne bewusste Anstrengung und eindeutige individuelle Entscheidungen vor sich geht. Religion ist nie eine passive Erfahrung, eine negative Haltung. Was man die „Geburt der Religion“ nennt, ist nicht direkt mit den so genannten Bekehrungserfahrungen verbunden, die im Allgemeinen religiöse Episoden charakterisieren, welche sich im späteren Leben infolge von mentalen Konflikten, emotionalen Verdrängungen und Gemütserschütterungen einstellen.

103:2.2

Aber all jene, die von ihren Eltern so erzogen wurden, dass sie im Bewus­stsein aufwuchsen, die Kinder eines liebenden himmlischen Vaters zu sein, sollten jene Mitmenschen nicht scheel ansehen, die nur durch eine psychologische Krise, einen Gefühlsaufruhr zu einem solchen Bewusstsein der Kamerad­schaft mit Gott gelangen konnten.

103:2.3

Der evolutionäre Boden des menschlichen Gemütes, in dem der Samen offenbarter Religion keimt, ist die sittliche Natur, die schon so früh ein soziales Bewusstsein entstehen lässt. Die ersten Eingebungen der sittlichen Natur eines Kindes haben nichts mit Geschlecht, Schuld oder persönlichem Stolz zu tun, sondern sind Regungen der Gerechtigkeit und Fairness, der Drang, Liebes zu tun, seinen Mitmenschen zu helfen. Und wenn solch ein frühes sittliches Erwachen unterstützt wird, findet eine allmähliche Entwicklung des religiösen Lebens statt, das von Konflikten, Erschütterungen und Krisen vergleichsweise frei ist.

103:2.4

Jedes menschliche Wesen erlebt schon sehr früh so etwas wie einen Konflikt zwischen seinen selbstsüchtigen und seinen altruistischen Regungen, und viele Male gelangt man zur ersten Erfahrung von Gottesbewusstsein, nachdem man zur Lösung solch sittlicher Konflikte übermenschliche Hilfe gesucht hat.

103:2.5

Die Psychologie eines Kindes ist von Natur aus positiv und nicht negativ. So viele Sterbliche sind negativ, weil man sie so erzogen hat. Wenn wir sagen, dass das Kind positiv ist, beziehen wir uns auf seine sittlichen Impulse, jene mentalen Kräfte, deren Erwachen die Ankunft des Gedankenjustierers verrät.

103:2.6

In Abwesenheit falscher Unterweisung bewegt sich der Verstand eines normalen Kindes, dessen religiöses Bewusstsein erwacht, eher positiv auf sittliche Rechtschaffenheit und sozialen Dienst hin als negativ von Sünde und Schuld weg. Die Entwicklung der religiösen Erfahrung kann mit oder ohne Konflikt erfolgen, aber nie können Entscheidungen, Anstrengungen und Funktionieren des menschlichen Willens umgangen werden.

103:2.7

Sittliche Entscheidungen sind gewöhnlich mehr oder weniger von sittlichen Kon­flikten begleitet. Und der allererste Konflikt im kindlichen Verstand entsteht zwischen dem Drängen des Egoismus und den Regungen des Altruismus. Der Gedankenjustierer übersieht den Wert des egoistischen Motivs für die Persönlichkeit nicht, aber er arbeitet im Sinne einer leichten Bevorzugung des altruistischen Impulses, der zum Ziel menschlichen Glücks und zu den Freuden des Himmelreichs führt.

103:2.8

Wenn sich ein sittliches Wesen, das den Drang zu egoistischem Handeln verspürt, zu selbstlosem Handeln entschließt, ist das eine primitive religiöse Erfahrung. Kein Tier kann eine solche Wahl treffen; solch eine Entscheidung ist sowohl menschlich als auch religiös. Sie schließt die Tatsache des Gottesbewusstseins ein und lässt den Impuls zu sozialem Dienen, der Grundlage menschlicher Brüderlichkeit, erkennen. Wenn sich der Verstand in einem freien Willensakt für ein echt sittliches Urteil entscheidet, ist solch eine Entscheidung eine religiöse Erfahrung.

103:2.9

Aber bevor sich ein Kind genügend entwickelt hat, um sittliche Fähigkeiten zu erwerben und deshalb den altruistischen Dienst wählen zu können, hat es bereits eine starke, gut geeinte egoistische Natur entwickelt. Und die Tatsache dieser Situation lässt die Theorie vom Kampf zwischen der „höheren“ und der „niedrigeren“ Natur entstehen, zwischen dem „alten sündigen Menschen“ und der „neuen Natur“ der Gnade. Sehr früh im Leben beginnt das normale Kind zu lernen, dass es „gesegneter ist zu geben, als zu nehmen“.

103:2.10

Der Mensch neigt dazu, den Trieb, sich selbst zu dienen, mit seinem Ich – mit sich selber – zu identifizieren. Im Gegensatz dazu identifiziert er den Willen, altruistisch zu sein, eher mit einem von außen kommenden Einfluss – mit Gott. Und in der Tat hat er mit seinem Urteil recht, denn alle derartigen selbstlosen Wünsche entspringen wirklich den Weisungen des innewohnenden Gedankenjustierers, und dieser Justierer ist ein Fragment Gottes. Der Impuls des geistigen Mentors wird im menschlichen Bewusstsein als das Verlangen wahrgenommen, altruistisch, auf das Wohl seiner Mitgeschöpfe bedacht zu sein. Wenigstens ist dies die frühe, grundlegende Erfahrung des kindlichen Gemütes. Wenn dem heranwachsenden Kind die Einigung der Persönlichkeit misslingt, kann der altruistische Hang derart überentwickelt werden, dass er dem Wohl des Selbst ernsten Schaden zufügt. Ein fehlgeleitetes Bewusstsein kann für manchen Konflikt, für viel Sorgen und Leid und menschliches Unglück ohne Ende verantwortlich werden.


◄ 103:1
 
103:3 ►