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Religion in menschlicher Erfahrung

4. Wachstumsprobleme

100:4.1

Religiöses Leben ist hingebungsvolles Leben, und hingebungsvolles Leben ist schöpferisches, echtes und spontanes Leben. Neue religiöse Erkenntnisse gehen aus Konflikten hervor, die die Annahme neuer und besserer Reaktionsgewohnheiten anstelle älterer und niedrigerer Reaktionsmuster auslösen. Neue Bedeutungen entstehen immer nur aus Konflikten; und Konflikte dauern nur angesichts der Weigerung an, sich die durch höhere Bedeutungen suggerierten Werte anzueignen.

100:4.2

Religiöse Ratlosigkeiten sind unvermeidlich; es kann kein Wachstum geben ohne psychischen Konflikt und geistige Unruhe. Die Organisation eines philosophischen Lebensstandards bringt einen beträchtlichen Aufruhr in den philosophischen Verstandesbereichen mit sich. Man übt sich nicht ohne Kampf in der Treue zum Erhabenen, Guten, Wahren und Edlen. Anstrengung begleitet die Klärung der geistigen Sicht und die Vertiefung der kosmischen Erkenntnis. Der menschliche Intellekt sträubt sich, wenn er der Nahrung nichtgeistiger Energien des zeitlichen Lebens entwöhnt wird. Das träge tierische Gemüt lehnt sich gegen die Anstrengung auf, die das Ringen mit dem Lösen kosmischer Probleme erfordert.

100:4.3

Aber das große Problem religiösen Lebens besteht in der Aufgabe, die Seelenkräfte der Persönlichkeit durch die Herrschaft der LIEBE zu einen. Gesundheit, intellektuelle Leistungsfähigkeit und Glück ergeben sich aus der Einigung der physischen Systeme, der mentalen Systeme und der geistigen Systeme. Der Mensch versteht viel von körperlicher und mentaler Gesundheit, aber an Glück hat er wahrhaft herzlich wenig vollbracht. Das höchste Glück ist unauflöslich an geistigen Fortschritt gebunden. Geistiges Wachstum zeitigt bleibende Freude und einen Frieden, der alles Begreifen übersteigt.

100:4.4

Im physischen Leben geben die Sinne über die Existenz der Dinge Aus­kunft; der Verstand entdeckt die Realität der Bedeutungen; aber die geistige Erfah­rung enthüllt dem Einzelnen die wahren Werte des Lebens. Diese hohen Ebenen menschlicher Lebensweise werden in der alles überragenden Liebe zu Gott und in der selbstlosen Liebe zum Menschen erreicht. Wenn ihr eure Mitmenschen liebt, müsst ihr bereits ihre Werte entdeckt haben. Jesus liebte die Menschen so sehr, weil er ihnen einen so hohen Wert beimaß. Am besten könnt ihr die Werte eurer Gefährten entdecken, wenn ihr ihre Motivation entdeckt. Wenn einer von ihnen euch irritiert, in euch Gefühle des Grolls aufkommen lässt, solltet ihr mit Sympathie seinen Gesichtspunkt, die Gründe für sein Anstoß erregendes Verhalten herauszufinden versuchen. Wenn ihr einmal euren Nachbarn verstanden habt, werdet ihr tolerant werden, und diese Toleranz wird in Freundschaft übergehen und zu Liebe reifen.

100:4.5

Ruft vor eurem geistigen Auge das Bild eines eurer primitiven Vorfahren aus der Höhlenbewohnerzeit wach – eines gedrungenen, ungestalten, schmutzigen, fauchenden, ungeschlachten Kerls, der, ganz Hass und Feindschaft, mit gespreizten Beinen und erhobener Keule dasteht und wild geradeaus schaut. Ein solches Bild bringt schwerlich die göttliche Würde des Menschen zum Ausdruck. Aber erlaubt uns nun, das Bild zu erweitern. Vor diesem erregten Menschen kauert ein Tiger mit Säbelzähnen. Hinter ihm befinden sich eine Frau und zwei Kinder. Augenblicklich erkennt ihr, dass dieses Bild den Anfang von viel Zartem und Edlem in der menschlichen Rasse enthält, und doch ist der Mann in beiden Bildern derselbe. Nur genießt ihr in der zweiten Skizze den Vorteil eines erweiterten Horizontes. Ihr erkennt darin den Beweggrund dieses sich entwickelnden Sterblichen. Sein Verhalten wird lobenswert, weil ihr ihn versteht. Könntet ihr nur die Motive eurer Gefährten ergründen, um wieviel besser würdet ihr sie verstehen! Könntet ihr nur eure Mitmenschen kennen, ihr würdet euch am Ende in sie verlieben.

100:4.6

Ihr könnt eure Mitmenschen durch einen bloßen Willensakt nicht wahrhaftig lieben. Liebe kann nur aufkeimen, wenn ihr die Motive und Gefühle eures Nachbarn gründlich versteht. Es ist weniger wichtig, heute alle Menschen zu lieben, als zu lernen, jeden Tag ein neues Menschenwesen zu lieben. Wenn ihr es jeden Tag oder jede Woche fertig bringt, einen weiteren eurer Mitmenschen zu verstehen, und wenn das die Grenze eurer Fähigkeit ist, dann sozialisiert ihr eure Persönlichkeit mit Sicherheit und vergeistigt sie wahrhaftig. Liebe ist ansteckend, und wenn menschliche Hingabe intelligent und weise ist, trifft Liebe stärker als Hass. Aber nur echte und selbstlose Liebe ist wirklich ansteckend. Wenn nur jeder Sterbliche zu einem Brennpunkt dynamischer Zuneigung werden könnte, würde der gutartige Virus der Liebe den gefühlsmäßigen Empfindungsstrom der Menschheit bald dermaßen durchdringen, dass die ganze Zivilisation von Liebe ergriffen würde, und das wäre die Verwirklichung der Bruderschaft der Menschen.


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